Die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf die Wirtschaft Polens - erste Prognosen
In den ersten 20 Tagen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine kamen über 1,72 Millionen Flüchtlinge (hauptsächlich Frauen und Kinder) nach Polen. Das polnische Parlament verabschiedete ein Sondergesetz über die Hilfe für die aus der Ukraine ankommenden Kriegsflüchtlinge, nach dem ukrainischen Bürgern u.a. Aufenthaltserlaubnis, Arbeitserlaubnis, Familiengeld, Erziehungsgeld, Leistungen für den sogenannten "guten Start", Gesundheitsleistungen und kostenfreier Zugang zu öffentlichen Schulen und Hochschulen zustehen. Dies wird eine enorme Belastung für den polnischen Haushalt und eine echte Herausforderung für viele Dienste sein, z.B. für das Gesundheitssystem, das bereits durch die seit zwei Jahren andauernde Coronavirus-Pandemie belastet ist.
Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass die Aufnahme der Zuwanderer durch den polnischen Arbeitsmarkt ein relativ kleines Problem sein wird. Schätzungen der polnischen Regierung und Personalagenturen gehen davon aus, dass Polen in den nächsten sechs Monaten ca. 0,5 Millione Arbeitnehmer und weitere 200.000 zu einem späteren Zeitpunkt aufnehmen kann. Polen leidet seit Jahren unter Arbeitskräftemangel. Die Arbeitslosigkeit liegt (laut Polnischem Hauptstatistikamt und Eurostat) unterhalb 3% (im Großraum Posen sogar unter 1%) und gehört zu den niedrigsten in der EU. Das Heilmittel gegen den Arbeitskräftemangel in Polen ist seit vielen Jahren die Beschäftigung von Arbeitern aus der Ukraine.
In Polen lebten bis zum Ausbruch des Krieges ca. 1,8 Millionen Staatsangehörige der Ukraine, die über 1,5 Mio. gültige Arbeitserlaubnisse (in Wielkopolska ca. 200 Tsd. Arbeitserlaubnisse) verfügten. Einige Branchen wie das Baugewerbe, das legal fast 400.000 Mitarbeiter aus der Ukraine beschäftigte, oder das Transportwesen (110.000 Mitarbeiter) wurden von ukrainischen Arbeitskräften dominiert. Nach Ausbruch des Krieges flossen vor allem aus diesen Sektoren Arbeiter ab, um ihr Heimatland zu verteidigen. Bisher verließen ungefähr 150.000 Männer - ukrainische Bürger - Polen in Richtung Ukraine. Gerade in der Bau- und Transportbranche können sie wegen der Eigenschaft der Arbeit nicht durch ukrainische Frauen ersetzt werden. Die Bau- und Transportbranche sind von einem Zusammenbruch gefährdet.
In anderen Wirtschaftszweigen ist die Situation weniger dramatisch. In der Industrie ist der Anteil der Mitarbeiter aus der Ukraine bedeutend, aber nicht dominierend, z.B. das Produktionsteam der hessischen Firma The Lorenz Bahlsen Snack World in Sady bei Posen besteht zu 25% aus Ukrainern. Darüber hinaus können Frauen in der Industrie erfolgreich beschäftigt werden. Die Situation in der Industrie wird jedoch durch andere Faktoren negativ beeinflusst. Der Ausbruch des Krieges verursachte Unterbrechungen in den Lieferketten vieler polnischer Unternehmen, darunter beispielsweise der Volkswagen-Werke in Posen und in Września, des weltweit einzigen Herstellers von Transportern VW-Caddy und VW-Crafter. Die Materialknappheit in der Produktion betrifft u.a. Kabelbäume, die in der Ukraine hergestellt werden. Beide Werke haben die Produktion von Autos zum 10. März 2020 eingestellt, bis alternative Quellen für fehlende Komponenten gefunden wurden.
Es ist erwähnenswert, dass Polen im Jahr 2021 vor Russland und der Türkei der zweite (nach China) Wirtschaftspartner der Ukraine und gleichzeitig der erste in der Europäischen Union war. Die Ukraine wiederum war für Polen der vierte Wirtschaftspartner außerhalb der Europäischen Union. Im vergangenen Jahr belief sich der Handelsüberschuss Polens mit der Ukraine auf etwa 2 Mrd. USD. Viele Rohstoffe für die Bauindustrie kamen aus der Ukraine, z.B. Zuschlagstoffe, Granitsplittsorten oder das äußerst seltene Kaolin, das für die Herstellung von Baukeramik benötigt wird. Zum zweiten Mal trifft der Krieg in der Ukraine die polnische Baubranche.
Polnische Unternehmen mit ihren Werken, Büros, Verkaufsstellen und Mitarbeitern in der Ukraine, in Russland und in Weißrussland befinden sich in einer besonderen Situation. In der Ukraine wurden sie aufgrund des Kriegsausbruchs und in Russland und Weißrussland aufgrund der verhängten Sanktionen weitgehend geschlossen. Die polnischen Exporte nach Russland gingen wegen der oben genannten Sanktionen zurück, und in Branchen, die nicht unter Sanktionen fallen, unter dem Einfluss des Risikos, dass polnische Verbraucher Unternehmen, die in Russland tätig sind, boykottieren.
Die Unsicherheit in Bezug auf die Wirtschaftsprognosen ist derzeit sehr hoch, aber es wird bereits geschätzt, dass der Krieg in der Ukraine das erwartete Wachstum des polnischen BIP im Jahr 2022 von 5,0% auf 3,5% herabsetzt und die Inflation von den prognostizierten 5,4% auf 8,5% steigern wird und einen weiteren Wertverlust des Zloty gegenüber dem Euro und dem US-Dollar bewirkt.